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Tageszeitung e.V.

Online Lexikon Presserecht

Recht auf Vergessenwerden

In Zeiten der weiter zunehmenden Digitalisierung wird die Frage, was mit bereits länger zurückliegender Berichterstattung zu geschehen hat, von immer größerer Bedeutung. Technisch gesehen, ist der Spruch „das Internet vergisst nie“ zwar nicht vollständig zutreffend. Der Satz nähert sich dem Problem aber gut an. Einmal geschriebene und veröffentlichte Beiträge sind im Internet regelmäßig ohne großen technischen und Kostenaufwand abrufbar zu halten, und auch ursprünglich in Print veröffentlichte Artikel werden häufig über Online-Archive angeboten. Hierbei stellt sich die Frage, ob und gegebenenfalls wann eine ursprünglich zulässige Berichterstattung derart an öffentlichem Interesse verloren hat, dass es nicht mehr zulässig ist, sie anzubieten. Oder, aus der anderen Perspektive betrachtet, wann einem von einer Berichterstattung Betroffenen ein „Recht auf Vergessenwerden“ zusteht.

 

Ursprünge

Das Recht auf Vergessenwerden wurde ursprünglich vom Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hergeleitet. Maßgeblich für das „right to be forgotten“ war die sog. Google-Spain-Entscheidung (13. Mai 2015 – C-131/12). Der EuGH entschied erstmals, dass ein Suchmaschinenbetreiber dazu verpflichtet sein kann, einen Link aus den Suchergebnissen einer namensbezogenen Suche zu entfernen. In dem Rechtsstreit war ein spanischer Staatsbürger gegen die spanische Tochterfirma von Google vorgegangen, weil Google in den Suchergebnissen eine über zehn Jahre alte Anzeige anbot, die die Zwangsversteigerung seines Grundstücks wegen Schulden bei der Sozialversicherung ankündigte. Der EuGH entschied, dass Google in diesem Fall dazu verpflichtet sei, das Ergebnis aus den Suchergebnissen zu löschen, weil der Beschwerdeführer ein Recht auf Löschung der Daten habe. Auch eine ursprünglich rechtmäßige Verarbeitung sachlich richtiger Daten könne im Laufe der Zeit rechtswidrig werden, wenn die Daten in Anbetracht aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der inzwischen vergangenen Zeit, nicht mehr den Zwecken, für die sie erhoben wurden, entsprechen. Etwas anderes gelte nur dann, wenn die breite Öffentlichkeit ein berechtigtes Interesse an der weiteren Auffindbarkeit des Beitrags habe, etwa weil es die Rolle im öffentlichen Leben der betroffenen Person rechtfertige.

 

Recht aus der DSGVO

In der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), die in allen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union unmittelbar gilt, ist das Recht auf Vergessenwerden in Art. 17 normiert und gibt jeder Person, deren personenbezogene Daten verarbeitet werden, das Recht, die unverzügliche Löschung der Daten zu verlangen, wenn bestimmte Voraussetzungen vorliegen. Die wichtigsten Anwendungsfälle sind, dass die Daten für die Zwecke, für die sie erhoben wurden, nicht mehr länger benötigt werden oder eine Einwilligung in die Verarbeitung widerrufen wurde. Auch sind unrechtmäßig verarbeitete Daten zu löschen.

Gegenüber Vertretern der Presse, ist das Medienprivileg des Art. 85 Abs. 1, 2 DSGVO zu beachten. Dieses verpflichtet die Mitgliedsstaaten dazu, Regelungen zu erlassen, um die Schutzbereiche der DSGVO mit dem Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit sowie der Verarbeitung zu journalistischen Zwecken in Einklang zu bringen („Medienprivileg“). Entsprechende Regelungen schließen die Geltendmachung des Rechts auf Vergessenwerden aus Art. 17 DSGVO gegenüber Vertretern der Presse weitgehend aus. Von dieser Möglichkeit hat die Bundesrepublik Deutschland Gebrauch gemacht, und so finden sich entsprechende Regelungen bspw. in § 12 Medienstaatsvertrag (MStV) für Rundfunk und Telemedien, sowie in den Landespressegesetzen der Länder (so z.B. in § 12 LPresseG BW; § 11a HmbPG; § 12 LPresseG NRW).

 

Verfassungsrechtliche Grundentscheidungen

In Deutschland wurde das Recht auf Vergessenwerden zuletzt durch zwei viel beachtete Grundsatzentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 6. Dezember 2019 (Az. 1 BvR 16/13 und 1 BvR 276/17) konkretisiert, die unter den Namen „Recht auf Vergessen I“ und „Recht auf Vergessen II“ bekannt sind.

In der „Recht auf Vergessen I“-Entscheidung hat das BVerfG entschieden, dass auch Online-Archive (konkret ging es um das Onlinearchiv des Spiegels) dazu verpflichtet werden können, technische Maßnahmen zu ergreifen, damit ältere Artikel nicht mehr über Suchmaschinen auffindbar sind. Dies gelte auch, wenn die Artikel in dem Archiv rechtmäßig zugänglich gemacht werden dürften. Der Entscheidung lag der Streit über die Rechtmäßigkeit dreier Archivbeiträge zugrunde, die 1982 und 1983 im SPIEGEL erschienen waren und sich mit den als „Morde auf der Apolonia“ bekannt gewordenen Ereignissen beschäftigten. Grundlage der Entscheidung waren allein deutsche Grundrechte, konkret die Abwägung zwischen Pressefreiheit und Meinungsfreiheit auf der einen und Persönlichkeitsrechtsschutz auf der anderen Seite. Damit kann sich ein Betroffener einer bereits längere Zeit zurückliegenden Berichterstattung nunmehr auch gegen den Betreiber des Archivs richten und von ihm Unterlassung verlangen. Die Haftung der Archivbetreiber ist gegenüber der Haftung der Suchmaschine nicht subsidiär (BGH, 22. September 2020 – VI ZR 476/19). Medienunternehmen werden aber regelmäßig weder zur Löschung noch zur Anonymisierung verpflichtet werden, sondern müssen lediglich technische Maßnahmen treffen, um eine Auffindbarkeit über Suchmaschinen zu verhindern. Bei der Website-Architektur kann dies etwa   durch den Einsatz sog. „NoIndex-Metatags“ erreicht werden.

Die grundlegenden Aussagen des BVerfG sind:

  • Ein Verlag darf anfänglich rechtmäßig veröffentlichte Berichte grundsätzlich auch in ein Onlinearchiv einstellen. Schutzmaßnahmen können erst dann geboten sein, wenn Betroffene sich an ihn gewandt und ihre Schutzbedürftigkeit näher dargelegt haben (Notice and Takedown).
  • Bei einer späteren Beurteilung kommt es insbesondere darauf an, in wie weit die Berichte das Privatleben und die Entfaltungsmöglichkeiten des Betroffenen beeinträchtigen. Dabei ist auch bedeutsam, an welcher Stelle in den Suchergebnissen ein Archivbeitrag zu finden ist.
  • Innerhalb der Abwägung des Persönlichkeitsrechtsschutzes mit der Pressefreiheit ist ein Ausgleich anzustreben, der einen ungehinderten Zugriff auf den Originaltext möglichst weitgehend erhält, dem Schutzbedarf des Betroffenen aber einzelfallbezogen – insbesondere gegenüber namensbezogenen Suchanfragen – hinreichend nachkommt.
  • Dadurch kann einem Betroffenen auch ein Anspruch gegen einen Verlag zustehen, der diesen dazu verpflichtet, durch technische Maßnahmen eine Indexierung durch Google zu verhindern, ohne dass der Artikel zu anonymisieren oder insgesamt zu löschen wäre.

 

In der „Recht auf Vergessen II“-Entscheidung hat das BVerfG entschieden, dass sich auch Suchmaschinenbetreiber auf die Meinungsfreiheit derjenigen berufen können, deren Inhalte in den Suchergebnissen angezeigt werden. Im der Entscheidung zugrundeliegenden Fall ging es um die Freiheit der Berichterstattung des Norddeutschen Rundfunks, welche nach Auffassung des BVerfG gegenüber den Persönlichkeitsinteressen einer Arbeitgeberin überwogen. Diese hatte von Google die Löschung eines Links auf einen Beitrag des NDR aus den Suchergebnissen nach ihrem Namen verlangt, in dem diese im Zusammenhang mit „den fiesen Tricks der Arbeitgeber“ genannt wurde. Erstmals entschied das BVerfG in dieser Entscheidung einen Sachverhalt selbst anhand der europäischen Grundrechte der Europäischen Grundrechtecharta.